Auswertung zum G8-Gipfel

 Besser spät als nie!

1.) Be part of the party.

Kapitalistische Gesellschaft, das ist keine ahistorische, übernatürliche »Struktur«, sondern ein dynamischer und widersprüchlicher Funktionszusammenhang zwischen den Menschen. So sehr sich das gesellschaftliche Falsche nur als Ganzes abschaffen lässt, so sehr wird diese Totalität immer wieder erst durch spezifische Mechanismen und institutionelle Strategien in sozialer Praxis hergestellt. Ob sich die Kritik der Gesellschaft eher aus der subjektiven Erfahrung gesellschaftlicher Widersprüche oder der objektiven und rationalen Einsicht in die Verhältnisse speist, ist nicht abschließend geklärt. Die Totalität ist jedenfalls nicht als geschlossene anzunehmen. Wem dazu immer nur »Es gibt kein richtiges Leben im Falschen« einfällt, der hat weniger als die Hälfte verstanden. Veränderungen und sogar kurzfristige Verbesserungen lassen sich in Teilbereichen durchaus innerhalb des Kapitalismus erkämpfen.

Mit diesen Menschen, die dementsprechend für die Veränderbarkeit menschlichen Verhaltens und gesellschaftlicher Verhältnisse eintreten wollen, lohnt für die radikale Linke die Auseinandersetzung. Schließlich wäre es eine »schlechte und eine idealistische Abstraktheit, wenn man um der Struktur des Ganzen willen, die Möglichkeit von Verbesserungen im Rahmen der bestehenden Verhältnisse bagatellisieren oder gar negativ akzentuieren würde (…). Je mehr die gegenwärtige gesellschaftliche Struktur (…) so sehr den Charakter einer ungeheuerlichen zusammengeballten‚ zweiten Natur’ hat (desto mehr scheint es), dass noch die armseligsten Eingriffe in die bestehende Realität eine viel größere, ja symbolische Bedeutung haben, als ihnen eigentlich zu kommt« (Adorno).

Wir haben den G8-Gipfel und die Aktionen in und um Rostock in diesem Sinne dazu genutzt, Diskussionen zu führen und Werbung für die Überwindung der Verhältnisse zu machen, an deren Symptomen die Reformisten aller Couleur mehr schlecht als recht herumdoktern. Der Gipfel war nicht das letzte Gefecht, sondern nur eine gute Möglichkeit, im Spektakel ein wenig die Wahrheit zu sagen und etwas Richtiges zu tun.

Das hat sich gelohnt. Mit mehr Engagement wäre sicherlich auch für »…ums Ganze« noch mehr drin gewesen. Das Bestreben jedenfalls, jeden Versuch der Intervention als per se ressentimentgeladen zu denunzieren, geht an der Realität vorbei. Man muss sich schon die Mühe machen, sich in Auseinandersetzung zu begeben und die konkreten Mechanismen der Integration zu benennen und zu bekämpfen. Das hat mit der Suche nach Freunden nichts, aber einiges damit zu tun, sich auch mal die Hände schmutzig zu machen. Die Frage ist dabei: welche Intervention wird wie begründet und führt zu was? Kriterium emanzipatorischer Bestrebungen bleibt die fortschrittliche und grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft. Die Resonanz auf unseren Block in Rostock hat gezeigt, dass es an solch einem Unterfangen auch im Herzen der Bräsigkeit Interesse gibt. Immerhin.

2.) Wir sind nicht gekommen, um zu bleiben.

Wir sind gekommen, um hier möglichst schnell verschwinden zu können. Eine »andere Welt in der viele Welten Platz haben«, in der also alles bleibt was es ist, hat mit Emanzipation wenig zu tun. Deren Versprechen bleibt die Überwindung des Bestehenden – der radikale Bruch. Kurzum: es geht um die Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen, die sich in jedem Bereich der Klassengesellschaft identifizieren lässt. Die Kritik der Verhältnisse ist mithin nicht nur eine Frage nach der »richtige Theorie«, die man sich leistet oder eben nicht. Die Frage ist vielmehr ob man den Antagonismenausbüglern von Gewerkschaften, Verbänden, Kirchen aller Religionen und freiberuflichen Bewegungspfaffen wieder mal auf den Leim gehen will – oder eben nicht. Auch Revolutionskitsch und autonome Sonntagsreden sind nicht schlauer als die Verhältnisse. Denn die Anpassung ans falsche Bewusstsein hat dieses noch nie verändert und wer die Leute immer da abholen will, wo sie stehen, holt sich meistens doch nur ihren Standpunkt ab. Aufgabe der radikalen Linken bleibt also, zu sagen, was jeweils nicht dafür spricht. Die Kritik des »Politikmachens«, das im Rahmen des bürgerlichen Staates und seiner Institutionen (wie Recht und Demokratie) immer wieder und keineswegs zufällig zur Umpolung fortschrittlicher Ansätze in die Sorge um das nationale »Allgemeinwohl« führt, ist notwendig.

Wenn radikale Linke aus Liebe zur One Family auf eine bedingungslose Kritik an reaktionären Tendenzen und Ideologien wie Antisemitismus und Antiamerikanismus verzichten, dann konterkarieren sie jeden emanzipatorischen Anspruch.
Die Funktionsweise von Ideologien und die Faktizität kapitalistischer Vergesellschaftung werden eine Pipilangstrumpfwelt jedoch auch in Zukunft nicht zulassen. Anstatt des Aufgehens in dieser Gemeinschaft der Betrogenen, mit der niemals die Abschaffung des Elends, wohl aber dessen so beständige wie folgenlose Anklage zu machen sein wird, muss die radikale Linke daher eine Negation des Bestehenden entwickeln.

3.) »Ich bin das Huhn aus Kamerun.«

Die Blockaden der Zufahrtswege des Gipfels in Heiligendamm waren so unterhaltsam wie konformistisch. Es ist durchaus positiv, wenn Menschen hierzulande und aus einer linken Perspektive heraus auch mal etwas machen, was der Herr Wachtmeister verboten hat. Keinen Grund aber gibt es, sich selbst zu verarschen. Die «Rote Zone« war von der Polizei eingerichtet um sie aufgeben zu können. Dazu sah man sich offensichtlich genötigt, das ist aber auch schon alles. Dass diese Revolutionssimulation dann als riesiger Erfolg verkauft wurde, rundet das Bild der Realitätsverweigerung ab und erinnert weniger an den Beginn einer »neuen Zeit« als an krampfhafte Durchhalteparolen. Diese Masche, die maßgeblich immer eine manövrierfähige (also im schlechtesten Sinne politikfähige) Masse zum Ziel hat, führt letztendlich – siehe G8 – nur zur Marginalisierung linksradikaler Inhalte. Die Aufgabe der radikalen Linken ist, wir hatten das schon, zu sagen, was Sache ist. Ihre Intervention in soziale Bewegung sollte dabei durchaus die progressiven Teile stützen. Ihr eigentlicher Zweck bleibt aber, sie aus diesen Bewegungen heraus zu brechen. Dafür ist die Anbiederung an – nicht die punktuelle Zusammenarbeit mit – (DGB-)Gewerkschaften und Verbände wie Attac genau der falsche Weg.

4.) Keine Gewalt ist auch keine Lösung.

Die Anzahl geworfener Steine oder verletzter Polizisten ist kein Gradmesser für die Radikalität und Sinnhaltigkeit einer Aktion. Gleichwohl war das Ende der Demonstration in Rostock das vernünftigste was unter den gegebenen Bedingungen passieren konnte. Dass die hochgerüsteten Polizeieinheiten über Stunden sehen konnten, wo sie blieben, war für viele aus gutem Grund Anlass zu Freude. Weniger, weil das nun die ultimative Rache für die vorangegangen Hausdurchsuchungen oder sonstige »Provokationen« gewesen wäre, sondern weil damit rein symbolisch, aber immerhin deutlich gemacht wurde, dass es möglich ist, den bewaffneten Arm des Souveräns öffentlich zu demütigen. Der Riot war nicht die Beschwörung einer besseren Welt, sondern die bildliche Absage an die bestehende. Die Frage der Gewalttätigkeit hat er richtig gestellt: Als Spiegelung der alltäglichen Gewalt, die nicht nur in offensichtlichen Ausdrücken des Vollzuges kapitalistischer Praxis, wie z.B. Abschiebungen, sondern in der Struktur dieser Gesellschaft selbst steckt. Das es die kapitalistischen Verhältnisse selbst sind, die alle Menschen zu Sachen macht, ist der blinde Fleck der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser Unfähigkeit – über Gewalt nicht als diese Gesellschaft grundlegend strukturierendes Moment, sondern immer nur als den ihr äußerlichen »Skandal« reden zu können – dieser Unfähigkeit hat der Riot die nicht integrierbare Sprachlosigkeit von 2 Kilo schweren Gehwegplatten entgegengesetzt. Die Illusion von Reform und Integration war damit ein paar Stunden lang weg vom Fenster mit Blick auf die Ostsee. Dadurch war der Riot sinnlos im besten Sinne. Und er war eben deswegen vertretbar, weil er doch nicht ziellos und terroristisch, sondern an einen genauen Adressaten gerichtet war: An den Staat und die bewaffneten Organe dieser Zurichtungsagentur, die sich als das gezeigt hat, was sie nun mal ist: Keine »Kommunikationsgemeinschaft« und auch nicht dein »Freund und Helfer« (ATTAC), sondern ein Gewaltapparat. Und hätte es noch eines Beweises bedurft, so hat das peinliche Gequengel von Monty und anderen Schädeln im Nachhinein gezeigt, dass der Riot das Richtige war. Denn mit der sich im Steinwurf manifestierenden Absage an jegliche Konstruktivität ist tatsächlich kein Staat zu machen. Der Weg zu einem Ende der Gewalt führt nach wie vor nur über die Abschaffung des Kapitalismus.

Gleichwohl entsteht Veränderung primär aus neuer gesellschaftlicher Praxis und weniger aus dem Kaputthauen von Parksäulen. Überdies ist der Preis, den eine Auseinandersetzung wie in Rostock an Verletzten und Verhafteten fordert, sehr hoch. Gewalt ist kein Selbstzweck. Der Riot ist also nur so gut wie die Gesellschaftskritik und ihre Organisierung die dahinter aufscheint. Dass in dieser Hinsicht noch fast alles im Argen liegt – auch das hat Rostock gezeigt.

5.) Alles muss man selber machen.

Eine vernünftige Veränderung der Verhältnisse steht momentan nicht auf der Tagesordnung und auch der Weg dahin ist bekanntermaßen keineswegs klar. Da aber »die Notwendigkeit des Kommunismus« sich eben nicht aus dessen historischer Wahrscheinlichkeit, sondern aus seiner bloßen Möglichkeit ableitet, führt an ihm kein Weg vorbei. Eine Chance kann dabei allerdings nur darin bestehen soziale und politische Praktiken und deren Reflexion auf einer kontinuierlichen Ebene, jenseits von autonomer Betroffenheitspolitik und Eventhopping, zu heben. Ohne Organisierung ist das für eine emanzipatorische Linke, die sich ernst nimmt, also nicht zu machen. Das heißt zunächst zwar sehr kleine Brötchen zu backen, ist aber das Gegenteil von Praxisabstinenz. Die Suche nach dem Ausweg kann schließlich nur in antikapitalistischer Kritik und Praxis liegen. Es gilt über Grundsätzliches zu reden, die Basiskategorien der bürgerlichen Gesellschaft, aber auch linke Gewissheiten in Frage zu stellen, Räume für emanzipatorische Auseinandersetzungen zu öffnen – um eine bestimmte Negation erst zu entwickeln. Das heißt für uns auch deren Grenze zu definieren.

Ein erster Ansatz dazu ist der Kongress, den wir im Dezember unter dem Motto »No Way Out? Wertkritik bis (Post)-Operaismus« in Frankfurt/M. veranstalten.

Wir haben also nicht fertig. Der Ausbruch braucht nicht nur erste Schritte, sondern Kontinuität. Das links von uns nur noch die Wand kommt, wir also »im Zentrum jeder Auseinandersetzung stehen«, ist uns in diesem Sinne keine Zustandsbeschreibung, sondern ein Arbeitsauftrag. Lässt sich doch mit einigem Recht sagen, dass die dem Kapitalismus innewohnenden Gesetzmäßigkeiten dessen Reproduktion mit Geisterhand besorgen, so kann man das vom Vorhaben der gesellschaftlichen Emanzipation schließlich nicht sagen.

Der »unheilvolle Gang der Dinge« läuft fast wie von allein – der Kommunismus nicht.